06.06.2025

Wissen

Bereit, Mary kennenzulernen? Los geht’s!

Du findest Philosophie interessant, weiss aber nicht, wo anfangen? In zwei Artikel erzählen Ana Abril und Armelle Martinez, Alumnae und Freiwillige der Philosophie-Olympiade, wie Philosophieren geht. Im zweiten Teil inspiriert dich Ana mit einem Gedankenexperiment zum philosophischem Denken.

Mary ist eine junge, aufgeweckte und brillante Wissenschaftlerin. Sie ist glücklich, lebt aber in einer traurigen und farblosen Realität: Sie hat ihr ganzes bisheriges Leben in einem schwarz-weissen Raum verbracht. Mary hat als Kind schwarz-weiss ferngesehen und kennt SpongeBob und seine Freunde alle nur in Abstufungen unterschiedlicher Grautöne. Als Teenagerin war sie häufig damit besorgt, dass die verschiedenen Graus — schiefergrau, aschgrau, asphaltgrau oder hellgrau — ihrer Kleidung auch wohl zusammenpassen. Ihre Geburtstagstorten waren zwar immer besonders lecker, mit Mango, Himbeere, Kiwi oder Kirsche, sahen sie aber auch immer gleich aus — eine Mischung zwischen Schwarz und Weiss. Und so wurde sich Mary mit jedem vergangenen Lebensjahr ihrer monochromen Lebensweise immer bewusster. 

In Mary entwickelte sich das Verlangen, alles über Farben, seien es ihre physikalische Beschreibung oder die physischen Prozesse, die für unsere Farbwahrnehmung verantwortlich sind, zu lernen. Getrieben von diesen Verlagen, wurde Mary zu der Wissenschaftlerin, wie wir sie heute kennen: Sie hat alles gelernt, was es über Farben zu wissen gibt. Sie selbst hat aber noch nie Farben wahrgenommen. Ihr grösster Traum ist es aber immer noch, einmal ihr Zimmer verlassen zu können und in eine nicht schwarz-weisse Welt zu blicken.

Die Frage, die ich dir nun stellen möchte, ist: Wird Mary etwas Neues lernen, falls es ihr jemals gelingt, aus ihrem farblosen Zimmer auszubrechen und in die farbenprächtige Welt zu schreiten? Erweitert sich ihr Wissen, wenn sie zum ersten Mal Farben selbst wahrnimmt?

Dies ist die zentrale Frage dieses Gedankenexperiments.

Gedankenexperimente sind ein Mittel in der Philosophie, um Ideen zu testen, indem theoretische Situationen mental konstruiert und untersucht werden. Das oben beschriebene Gedankenexperiment ist bekannt als Mary’s Room.

Auf die Fragen, die in einem Gedankenexperiment gestellt werden, gibt es nicht die eine richtige oder falsche Antwort. Denn die richtige Antwort zu finden, ist nicht grundsätzlich das Ziel eines Gedankenexperiments. So wäre es nicht sinnvoll, einfach zu sagen: «Nein! Mary lernt nichts Neues. Das ist die einzig richtige Antwort!» Denn aus einer solchen Antwort lernen wir nichts Neues. 

Für uns, als Philosophen, ist es viel interessanter, sich nach erstmaligen intuitiven Beantworten der Frage kritisch mit der Bedeutung der gegebenen Antwort auseinanderzusetzen. Wir wollen genau untersuchen, wie uns die gegebene Antwort über die Welt und uns selbst lehrt. Welche Implikationen haben unterschiedliche Antworten? Was bedeuten diese gegebenenfalls für uns und wie können wir sie in unseren Argumenten verwenden?

Beantwortet man die Frage mit «Ja, Mary lernt etwas Neues über die Welt.», dann hat man dieselbe Meinung wie der Erfinder dieses Gedankenexperiments, Frank Cameron Jackson. Dieser meinte sogar, dass es „offensichtlich“ so sei. 

Nach Jackson, wird also Mary beispielsweise, wenn sie an ihrem nächsten Geburtstag das erste Mal eine sonnengelbe Mango-Geburtstagstorte vor sich sieht, lernen, wie es ist, dieses Sonnengelb wahrzunehmen. Das ist etwas, was sie nie in ihrer farblosen Welt hätte lernen können, egal wie sehr sie sich damals bereits mit Farben auseinandergesetzt hat. Indem sie also Farben selbst wahrnimmt, erweitert sie ihr bisher auf physikalische Tatsachen beschränktes Wissen auf nicht-physikalische Tatsachen. Farben sind also mehr als reine physikalische Tatsachen.

Diese Konklusion war deswegen so wichtig für Jackson, weil er dieses Gedankenexperiment als ein Argument gegen den Physikalismus verwendete (Der Physikalismus ist die These, dass das gesamte Universum, inklusive dem Mentalen, rein physikalisch ist.). Die Verneinung des Physikalismus ist also nach Jackson unumgänglich, wenn die im Gedankenexperiment gestellte Frage mit «Ja!» beantwortet wurde (wovon Jackson ausging).

Es kann aber genauso darauf bestanden werden, dass Mary nichts Neues mit lernt, wenn sie Farben zum ersten Mal selbst wahrnimmt. In diesem Fall wusste Mary in ihrem schwarz-weissen Raum genau dasselbe, was sie ausserhalb ihres Zimmers wusste, nachdem sie ihren gelben Mango-Kuchen gefuttert hatte. Farben können demnach vollständig durch physikalische Tatsachen verstanden werden. 

In dem man versucht aufzuzeigen, dass es nicht „offensichtlich“  ist, dass Mary etwas Neues lernt, kann man Jacksons Argumentation gegen den Physikalismus entgegenhalten. Vielleicht fällt dir ja ein gutes Argument dazu ein! Lässt sich das Gedankenexperiment vielleicht so verändern, dass es „offensichtlich“ ist, dass Mary nichts Neues dazu lernt? 

Über die Autorin: Ana Maria Abril gewann 2023 Silber im Finale der Philosophie-Olympiade. Jetzt studiert sie Philosophie und Mathematik in Bern und engagiert sich ehrenamtlich für die Philosophie-Olympiade.

Du könntest Jacksons Argumentation auch anders entgegenhalten. Beispielsweise indem du argumentierst, dass die beiden Antworten, die vom Gedankenexperiment vorgeschlagen werden (Ja! oder Nein!), nicht die einzigen möglichen sind: Mary lernt nichts Neues, im Sinne von neuen Tatsachen, die sie vorher nicht wusste. Vielmehr erlernt sie, wenn sie ihr Zimmer das erste Mal verlässt, oder die Mango-Torte vor sich stehen sieht, eine neue Fähigkeit.

Wenn du dies tust, dann bringst du die Frage auf, ob überhaupt klar ist, was wir meinen, wenn wir sagen, dass jemand etwas neues lernt. Unterschiedliche Verständnisse davon können zu anderen Antworten der Frage im Gedankenexperiment führen, welche wiederum unterschiedliche Folgerungen haben können. Vielleicht sollten wir deswegen erst untersuchen, was wir genau mit „Jemand lernt etwas Neues.“ verstehen (sollen), um uns sinnvoll mit dem Gedankenexperiment auseinandersetzen zu können. 

Damit stellt sich die Frage, welche anderen Faktoren zusätzlich darin einfliessen, wie wir die Frage des Gedankenexperiments beantworten und eventuell auch erst geklärt werden müssten…

Dieses Gedankenexperiment sollte dich dazu ermutigen, selbst zu denken und zu philosophieren. Es sollte aufzeigen, dass die Philosophie eine aktive Tätigkeit ist: Erst wenn wir selbst denken und unsere Ideen mit anderen diskutieren, tun wir das, was die Philosophie wirklich ausmacht. Vielleicht weckt die Begegnung mit Mary im Gedankenexperiment bei dir ja den Wunsch, dein Zimmer zu verlassen, dich weiter in die Welt der Philosophie vorzuwagen .... und an der Philosophie-Olympiade teilzunehmen!

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